30 May
30May

Jeder weiß: wer schreit, hat Unrecht. In einer Diskussion ist der wachsende Lautstärkepegel ein Indiz dafür, dass immer mehr Adrenalin ins Spiel kommt und das Großhirn vom Kleinhirn allmählich an die Wand gespielt wird. Aus konstruktiver Kritik, rationalen Argumenten wird emotionale Aggression und instinkthaftes Bellen. Menschen degenerieren zu wilden Kreaturen. Nun hat die zivilisatorische Entwicklung und die Ausbildung von Kulturtechniken wie der analytischen, geordneten Pro– und Contra-Diskussion dazu beigetragen, dass im Laufe der Jahrhunderte immer weniger Schwerverletzte aus Parlamenten und Diskussionsrunden herausgetragen werden müssen. Fast schon könnte man glauben, in unseren Breitengraden träte Pöbelei nur noch nach Druckbetankung mit Wodka und Dosenbier zutage.

Doch da kam das Internet und mit ihm kamen seine Foren, Blogs und Plattformen. Und mit den Foren, Blogs und Plattformen kamen Unhöflichkeit, Aggression und Pöbelei zurück. Früher (also: Ende des letzten Jahrhunderts, so um 1998), da musste man als Leserbriefschreiber seiner Heimatzeitung unter voller Namensnennung am öffentlichen Diskurs teilnehmen. Heute bleibt man anonym oder unidentifizierbar, pöbelt, denunziert und gröhlt nach Herzenslust herum. — Und was sagen dazu die Netzexperten, also jene, die mit dem Start des Internets eine neue Informationsfreiheit am Horizont aufziehen sahen? Was sagen heute die, die mit „Liquid Democracy“ geprahlt und von Schwarmintelligenz geschwärmt haben? Nicht viel sagen heute die Experten. Längst haben „Nationale Leitmedien“ wie die „Süddeutsche“ Moderatoren angestellt, die die schlimmsten Netz-Schweinereien wegmachen, die das Forum abends um 22h abschalten und erst morgens wieder öffnen. Längst erschallt der Ruf nach mehr „Anstand“, der Begriff „Netiquette“ erfährt eine kleine Renaissance.

Dennoch wird im Netz immer noch reichlich rumgebrüllt. Und zwar durch häufige Verwendung von Ausrufezeichen, Großbuchstaben und Schimpfwörtern. Was übrigens auch am Prozess des Schreibens liegen mag. Früher musste man Papier falten, eintüten, wegschicken. Heute wird die Enter-Taste schon gedrückt, während das Adrenalin noch immer das Denken vernebelt.


 
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